“Augen auf! – Hinsehen und schützen”
Unter dieses Leitwort hat das Erzbistum Paderborn seine Präventionsarbeit zum Schutz von Minderjährigen vor sexualisierter Gewalt gestellt. Im St.-Ursula-Gymnasium in Attendorn fand die zweite Pilotschulung des Erzbistums für das Lehrerkollegium und alle Angestellten der Schule in kirchlicher Trägerschaft statt.
„Wir wollen Sie ein Stück sicherer im Thema machen und nicht zeigen, dass unter Ihnen Generalverdacht besteht“, hob Kalle Wassong, Präventionsbeauftragter des Bistums Aachen, ausdrücklich hervor, der mit einem Team von sechs Referenten die Pilotschulung in Attendorn durchführte: „Wir möchten Ihr Wissen und Ihre Handlungsfestigkeit erweitern, weil die Situationen, mit denen Sie zu tun haben können, oft so differenziert sind.“
Schulleiter Pastor Markus Ratajski stellte in seiner Begrüßung die Schulen als wichtige Kontaktstelle zu jungen Menschen, die Aufmerksamkeit verdienen, in den Vordergrund. Dass lehrendes und nicht lehrendes Personal gleichermaßen an der Schulung teilnahmen, begrüßte Ratajski: „Denn der Schulalltag funktioniert nur miteinander.“
Durch Präventionsarbeit unter dem Leitwort „Hinsehen und Schützen“ soll eine entschiedene Haltung gefördert und deutlich gemacht werden, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Schutz von jungen Menschen als selbstverständlichen Auftrag in ihrem Tun verstehen.
Dazu bedarf es auch einer konkreten Definition: Sexualisierte Gewalt meint jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind oder einem Jugendlichen entweder gegen dessen Willen vorgenommen wird, oder der die Person aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann.
Mit einer Zuordnungsübung sensibilisierte Referentin Petra Steeger die Teilnehmer der Schulung, im Rückblick sogar mit manch überraschender Erkenntnis: Zum Beispiel hielt der Bundesgerichtshof es 1952 noch für legitim, dass Eltern eine ihrer Meinung nach sittlich verdorbene 16-jährige Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett und Stuhl bestraften. Erst rund 60 Jahre später trat das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung in Kraft (§ 1631), nach dem Kinder das Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. So wurde auch klar, dass eine Ohrfeige nicht zu den relevanten Mitteln in der Erziehung gehöre. Ganz aktuell wurden Vorschriften nochmals novelliert zum Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes.
Umso erschreckender waren die tags zuvor veröffentlichten Zahlen des UNICEF-Berichts: demnach ist in der Welt jedes zweite Kind von Gewalt betroffen. Das Kindeswohl ist gewährleistet, wenn Grundbedürfnisse erfüllt sind. Doch, so das Präventions-Team, wer denke in der zivilisierten Welt schon daran, dass Essen, Trinken und Schlafen nicht überall garantiert seien. „In dieser Runde müssen wir uns mit den Grundbedürfnissen oft wenig auseinandersetzen, wo anders – selbst in Deutschland – ist das aber noch lange nicht so“, betonte Simone Krapp.
Für die Angestellten der Schulen gilt ein besonderes „Augen auf“, was unter Schülern geschieht, wo plötzliche Auffälligkeiten auftauchen oder auch eine Wahrnehmung im Kollegium. „Aber“, so mahnte Referent Norbert Engels, „man kann nicht ein Muster oder Modell nehmen und sagen, wenn das ist, dann ist das geschehen. Viele Faktoren sind möglich und manche Kriterien haben auch ganz andere Ursachen wie zum Beispiel Krankheiten. Gebe es ganz klare Zeichen, würden sie Opfer möglichst vermeiden.“
Die Bandbreite sexualisierter Gewalt erstreckt sich von Grenzverletzungen (unbeabsichtigt oder beabsichtigt) bis zu strafrechtlich relevanten Formen von sexuellen Übergriffen. Die Grenzen sind oft fließend bei der Grenzverletzung und für Laien nicht immer eindeutig zu entscheiden. Daher ist es wichtig, sich Hilfe und Unterstützung zu holen.
Die Schulungsteilnehmer der St.-Ursula-Schule besprachen mit den Referenten Fallbeispiele und mussten eine Einschätzung vornehmen.
Man dürfe auf keinen Fall die Augen verschließen, denn, so Norbert Engels, sexualisierte Gewalt passiere auch im Sauerland. Und da sei es egal, ob es eine Hauptschule oder eine weiterführende Schule sei. „Dann müssen wir den Kindern Glauben schenken und sie ernst nehmen. Oft vertraut sich ein Kind bis zu sieben Mal einem Erwachsenen an, bis ihm wirklich geglaubt wird“, sagte Norbert Engels, der das Lehrerkollegium aber auch erinnerte: „Als Lehrer habe ich dem Opfer einen Weg zu bereiten und es ist nicht meine Aufgabe, den Täter zu verfolgen. Als Lehrer schaffe ich ein Wir-Gefühl und gehe gemeinsam mit dem Kind zu einer Stelle, die diesem besser helfen kann.“
Die St.-Ursula-Schule in Attendorn hat mit zwei Stellen in der Schulsozialarbeit auch gleich vor Ort ausgebildete Ansprechpartner, die das Wohl der Schülerinnen und Schüler im Auge haben. Vertrauen, Klarheit und Schweigepflicht sind die wichtigsten Aspekte in der alltäglichen Arbeit. Das Selbstverständnis: „Hilfe in Form von Beratung, kann sehr unkompliziert sein, kann aber auch einige Tage in Anspruch nehmen.“
Die Referenten des Erzbistums Paderborn empfahlen dem Lehrerkollegium und Schulangestellten auch erste Handlungsschritte. „Ruhe bewahren und keine überstürzten Handlungen“, stehen an erste Stelle. „Keine Konfrontation mit dem Täter, keine eigenen Ermittlungen – sondern: Zuhören, Glauben schenken und ermutigen sich mitzuteilen, beobachten, eigene Grenzen akzeptieren und Unterstützung holen“, sind weitere hilfreiche Verhaltensweisen.
Eindrucksvoll zeigten in den Schulungsgruppen die Referenten auch die Strategien der Täterinnen und Täter auf, die kollegiale, familiäre und vertrauensvolle Strukturen nutzen, um an ihre Opfer zu kommen. Norbert Engels: „Sexuellen Missbrauch begeht man nicht zufällig, sondern er ist geplant.“ Kontakte werden angebahnt und Vertrauen aufgebaut. Zu einem späteren Zeitpunkt werden die Widerstände ausgetestet, bis gezielt die Gelegenheit zu einem schweren Übergriff geschaffen wird. Und danach geht der Täter dazu über, beim Opfer Schuldgefühle zu erzeugen, oder aber auch zu drohen. Norbert Engels: „Meistens ist sexualisierte Gewalt keine einmalige, sondern eine mehrfach vorkommende und länger anhaltende Tat. Täter kommen aus allen sozialen Schichten. Täter können auch weiblich sein.“ Etwa 5 bis 12 Prozent aller Täter sind pädosexuell.
„Eine der besten Fortbildungen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe“, befand eine Lehrerin am Ende der Schulung und erntete für diese Aussage viel zustimmenden Applaus aus dem Kollegium. Konzept und Umsetzung seien gut gelungen, schlossen sich weitere Stimmen an. Die Informationen seien vielseitig, das Problembewusstsein geschärft worden.
Kalle Wassong, der auch im Bistum Aachen eine ähnliche Schulung bereits durchgeführt hatte, fasste zusammen: „Präventionsarbeit ist eine Grundhaltung, die zu katholischen Schulen passt. Und es ist profilbildend, sich mit dem Thema offen zu beschäftigen.“ Eine zufriedene Bilanz zog auch Claudius Hildmann von der Hauptabteilung Schule und Erziehung im Erzbischöflichen Generalvikariat Paderborn: „Die zahlreichen positiven Rückmeldungen lassen den Rückschluss auf einen gelungenen Tag zu. Ich freue mich, dass Sie sich hier alle so aufgeschlossen gezeigt und mitgearbeitet haben. Die Qualität der Schulen in Trägerschaft des Erzbistums Paderborn ist damit nochmals gestärkt.“
Ronald Pfaff